Korfu-Krimi Tour

Georgos Katsatopoulos, der Reviervorsteher von Karousades, saß an seinem Schreibtisch und strich sich bedächtig über seinen imposanten Schnauzbart. Vor ihm stand die obligatorische Tasse Heleniko , der starke, schwarze griechische Kaffee, von Georgos höchstpersönlich zubereitet. Ihm gegenüber saß Katharina Katsoulidis, eine Journalistin aus Hamburg, in Athen geboren, in ihrem Urlaub auf Korfu. Georgos nippte vorsichtig an seinem dampfenden Heleniko. „Verstehe ich Sie richtig,“ fragte er, „Sie möchten mehr über die Hintergründe der Korfu-Krimis wissen?“ Katharina trank ebenfalls einen Schluck Heleniko, bevor sie antwortete. „Meine Zeitung hat mich gebeten, einen Artikel zu schreiben und Fotos zu schießen, damit sich die Leser ein besseres Bild von den Schauplätzen der Krimis machen können. Viele Touristen wandeln inzwischen auf den Spuren von Harko und Roberto.“ Sie lächelte. „Und natürlich auch auf Ihren Spuren.“ Georgos lächelte zurück. „Doch nicht jeder hat die Möglichkeit, selbst nach Korfu zu kommen. Für diese Leser soll und möchte ich Ihre Abenteuer in Bildern festhalten.“ Sie zückte ihre Kamera. „Mit Ihnen möchte ich beginnen. Mit Ihnen und dieser Polizeistation, vermutlich dem berühmtesten Polizeiposten von ganz Korfu.“

Georgos Katsatopoulos lächelte noch immer, gleichzeitig hob er abwehrend die Hand. „Das ist leider nicht möglich. Es gibt aus Athen klare Anweisungen, Polizisten und Polizeistationen dürfen nicht fotografiert werden, aus Sicherheitsgründen.“
Katharina wirkte enttäuscht.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag,“ sagte Georgos. „Es wird ohnehin Zeit für meine tägliche Patrouillenfahrt. Begleiten Sie mich, und ich zeige Ihnen die wichtigsten Schauplätze der Korfu-Krimis.“
Nun strahlte Katharina. Sie trank ihren Heleniko aus, packte die Fotoausrüstung zusammen und wenige Minuten später saß sie neben Georgos Katsatopoulos im Polizei-Jeep.
„Fahren wir als erstes zu Harko und Roberto? Ich kenne die Beiden nur vom Telefon und bin sehr neugierig, sie persönlich zu treffen.“
Georgos überlegte. „Sollte eine Krimitour nicht mit der Handlung beginnen? Was halten Sie davon, wenn wir erst einmal nach Agios Georgios fahren?“
„Sie meinen, so, wie es im ersten Band beschrieben ist? Georgos Katsatopoulos hat gerade einen Anruf erhalten, am Strand liegt eine Leiche, nun steigt er in seinen Jeep und fährt hin?“
Georgos schmunzelte. „Ja, so wie damals. Doch damals hatte ich es eiliger. Und… zu der Zeit kannte ich Harko und Roberto noch nicht.“

Er startete den Motor, ließ den Jeep dann gemächlich die abschüssige Straße hinunterrollen und schlug an der nächsten Abzweigung den Weg nach Pagi und Agios Georgios ein. Katharina drückte fleißig auf den Auslöser ihrer Kamera. Fotografierte schmale Ortsdurchfahrten und atemberaubende Ausblicke, denn das Wetter an diesem Tag war klar und man konnte in der Ferne sogar die Berge Albaniens sehen.
„Sie haben nicht vergessen, einen Film einzulegen?“

Georgos hatte zwar nicht mitgezählt, war sich aber sicher, Katharina hatte schon mehr als 36 Aufnahmen gemacht.
„Ich brauche keinen Film,“ erklärte sie, „die Kamera zeichnet alles auf einen Chip auf.“ Katharina warf einen Blick auf das Display. „Ich habe noch 500 Bilder und wenn die Karte voll ist…“ Sie zeigte Georgos eine Handvoll Speicherkarten. „Ich habe genügend digitale Filme dabei.“
Sie fuhren durch ein grünes Tal.
„Darf ist Sie etwas fragen?“
Georgos nickte.
"Ich verstehe nicht viel von Literatur, ich bin Journalistin. Doch wenn ich mich mit Leuten aus Afionas unterhalte, treffe ich viele Figuren aus den Krimis und alle sind stolz, in den Büchern vorzukommen. Frage ich aber nach den Bösewichtern, stoße ich auf eine Mauer des Schweigens. Gibt es da einen geheimen Pakt?„
Georgos kam nicht dazu, ihre Frage zu beantworten, er musste scharf abbremsen und nach rechts ausweichen, als ihnen ein blauer Jeep entgegenkam. Georgos fluchte kräftig, hob dann aber grüßend die Hand, als der Jeep mit dem Emblem der OTE, der griechischen Telefongesellschaft, an ihnen vorbeirauschte.
“Das war übrigens Harko – mal wieder schneller, als die Polizei erlaubt.„
Katharina drehte den Kopf, riss die Kamera hoch, doch es war zu spät: Sie sah nur noch die Rücklichter von Harkos Jeep in der Ferne verschwinden. Enttäuscht drehte sie sich wieder um und sah missmutig nach vorn.
“Sie kennen die Krimis?„ fragte Georgos.
Die Journalistin murmelte etwas, das Georgos als ein Ja interpretierte.
“Als Roberto aus Stuttgart von seinen Recherchen beim LKA zurückkam, hat er mir einige seiner Geheimnisse verraten.„
Katharina spitzte die Ohren.
“Er sagte: Ein Krimiautor überlegt sich eine spannende Geschichte, schreibt sie auf und schmückt sie dann mit so vielen realistischen Details, dass sie authentisch wirkt. Ein Journalist dagegen recherchiert und schreibt dann auf, was er erfahren hat. Das führt dazu, dass Krimis oft wenig mit der Realität zu tun haben, weil in der Phantasiewelt andere Regeln gelten, während es Reportagen über Kriminalfälle an Spannung fehlt. Die Korfu-Krimis dagegen sind anders.„
Katharina lauschte, doch Georgos tat so, als müsse er sich auf die Straße konzentrieren. Schließlich drängte ihn Katharina, das Geheimnis der Korfu-Krimis zu verraten, doch Georgos machte es weiterhin spannend.
“Als Roberto aus Stuttgart zurückkam, sagte er: Alle Beamte des LKAs, mit denen er gesprochen habe, seien der Ansicht gewesen, eine Geschichte müsse spannend sein, sonst mache es keinen Spaß, sie zu lesen. Der Polizeialltag sei zwar auch manchmal interessant, guten Stoff für packende Storys aber gebe es nur selten. Zuviel Routine. Doch eine gute Geschichte müsse nicht nur spannend sein – die Details müssten stimmen.„
“Und Roberto kombiniert eine spannende Geschichte mit vielen Details?„
Georgos nickte zustimmend. “So ungefähr. Roberto schreibt und Harko prüft, ob die fachliche Seite stimmt. Doch Roberto geht noch einen Schritt weiter. Er nimmt einen echten oder einen erfundenen Fall und überlegt sich dann, wie Harko und ich ermitteln würden. Und er lässt die Handlung in der echten Umgebung von Korfu spielen, fragt die Menschen, wie sie reagieren würden, was sie glauben, wie etwas geschehen sein könnte. In den Krimis vermischt er dann seine Phantasie, seine Recherchen und wirkliche Ereignisse, so dass am Ende keiner mehr weiß, was wirklich geschehen ist und was er sich nur ausgedacht hat.„ Der Reviervorsteher von Karousades lachte. “Wenn ich in einem echten Fall ermittle, kann es mir inzwischen passieren, dass mir die Leute Dinge sagen, die sich Roberto ausgedacht und sie gefragt hat – seine erfundenen Ereignisse werden allein dadurch, dass hier viel darüber gesprochen wird, zu einer eigenen Realität.„
Er wurde nun sehr nachdenklich. “Vieles von dem, was er schreibt, ist nicht wirklich geschehen, aber wenn es passiert wäre, hätte es sich vermutlich genau so ereignet, wie er es schreibt. Es ist, als würde er eine neue Realität erschaffen – und gelegentlich eilt er dabei der Zeit nur ein wenig voraus. Gerade so, als würde sich selbst die Realität danach richten, was in den Krimis beschrieben ist."

Sie hatten die Bucht vonAgios Georgios fast erreicht. Georgos hielt an und deutete auf ein gelbes Haus. "Hier ist das Ilios , in dem Alex, der Goldschmied, zusammen mit anderen Goldschmieden Schmuck herstellt und verkauft. Hier finden auch die Götter-Dinner und die Krimi-Lesungen statt.„
Katharina stieg aus und machte einige Aufnahmen. Als sie wieder zu Georgos in den Wagen stieg, zeigte der ihr einen Zeitungsausschnitt: Das Foto eines Mannes, darunter der Name Roberto Bardéz. “Ich werde ihnen nicht verraten, wo wir damals das tote Mädchen am Strand gefunden haben, aber ich werde ihnen gleich die Stelle zeigen, wo Roberto die Wasserleiche fotografiert hat."
Sie fuhren etwa 200 Meter weiter, dann stellte Georgos den Wagen am Strand ab und stieg aus. Katharina folgte ihm. Das Meer in der Bucht war an diesem Tag still wie ein See, der Strand voller Badegäste, einige drehten ihnen neugierig die Köpfe zu.

„Heute ist es genau wie damals, als ich herkam, um mir die Leiche des Mädchens anzusehen: Ein sonniger Tag Ende Mai, der Strand gut besucht, das Wasser ruhig. Wie im Urlaub auf Korfu. Roberto hat diese Szene nach meinem Bericht beschrieben. Jetzt bin ich es, der Robertos Leichenfund nach seinem Bericht beschreibt.“
Georgos zeigte auf das Meer. „An jenem Tag war das Meer sehr unruhig, der Südwind blies kräftig und drückte das Wasser in die Bucht herein. Roberto war gerade bei Alex, als der einen Anruf von seiner Mutter bekam. Sie sagte: Am Strand liegt eine Leiche. Alex hat wohl noch gescherzt, das sei genau wie in Robertos Krimi. Roberto hat gelacht und geglaubt, es sei ein abgekartetes Spiel, Alex wolle ihn mit einigen Freunden auf den Arm nehmen. Am Strand, so sagte Roberto, lag tatsächlich jemand, einige Leute standen daneben und er wollte ihnen den Spaß nicht verderben. Deshalb tat er so, als würde er wirklich fotografieren. Bis er merkte, dass es tatsächlich ein Toter war, ein Fischer, der 10 Tage zuvor in einem Sturm kenterte und ertrank. Danach fiel es Roberto bedeutend schwerer, wirklich auf den Auslöser zu drücken. Er habe sich, so sagt er jedenfalls, in diesem Moment wirklich wie in seinem eigenen Krimi gefühlt, und nachdem er die Bilder gemacht hatte, dachte er wohl an den dritten Band: Er rief Konstantinos an, den Journalisten von der Enimerosi, schickte ihm die Aufnahmen zu und am nächsten Tag erschien der Artikel in der Zeitung.“
Georgos deutete den Strand entlang nach Afionas. „Das ist es wohl, was die Korfu-Krimis von anderen Krimis unterscheidet: Jeder, der hierherkommt, hat die Möglichkeit, sich die Schauplätze selbst anzusehen, kann sich mit den Figuren unterhalten. Man weiß als Leser, es ist nur eine Geschichte, aber niemand weiß genau, was davon nun wahr ist und was nicht. Ich glaube, inzwischen weiß nicht einmal mehr Roberto, wo die Grenze zwischen Phantasie und Realität liegt.“
Die Beiden stiegen wieder in den Wagen und fuhren den Strand entlang. Immer wieder hielt Georgos an, deutete auf Schauplätze aus den Krimis, Katharina stieg aus und machte Bilder.

Hier Marias Snack-Shop, wo sich Harko und Roberto oft treffen, um über die Fälle zu diskutieren."

„Dort das Delfini  – wenn Sie mal wirklich guten Fisch essen wollen.“

„Da oben das Haus des Professors, der Glück hat, dass er nur im Krimi gestorben ist und weiterhin an seiner Kunst arbeiten kann.“

An der Kreuzung in Afionas, an der die Straße von Agios Georgios in die Hauptstraße von Afionas mündet, sagte er: „Hier wäre Rudi, der V-Mann, beinahe überfahren worden.“ Die Fahrt in den Ort führte vorbei am Haus des Bäckers.

Kurz danach, in einer engen, sehr steilen Kurve, hielt Georgos an. „An genau dieser Stelle rutschte der LKW in den Olivenhain. Wenn Sie den Hang hinunterklettern, finden Sie heute noch den Sand, den der LKW geladen hatte.“

Katharina sah den Hang hinunter und schauderte. „Ziemlich steil.“ Georgos stand an den Jeep gelehnt und sagte: „Heute können wir darüber lachen, doch damals war das keineswegs komisch. Manousos war dabei, als es geschah.Wie in Zeitlupe ging der Wagen erst vorne in die Höhe, dann rutschte er die Straße hinunter und den Abhang hinab. Alexis hat am ganzen Leib gezittert, als er endlich aus dem Führerhaus rauskam. Hat ihn sehr mitgenommen.“
„Und deshalb hat er sich…“
Georgos hob die Hand. „Der Unfall ist wirklich passiert, was danach geschah, war Teil der fiktiven Realität. Doch wie hier viele mit familiären Problemen umgehen, stimmt leider.“

Er wollte gerade wieder in den Wagen steigen, als ein roter LKW vorbeifuhr. „Das ist Manousos.“

Manousos hatte es eilig, wie üblich, doch diesmal gelang es Katharina, schnell genug ein Bild von ihm zu machen. Dann fuhren sie weiter. „Ich möchte Ihnen nicht nur die Schauplätze von Unfällen und Verbrechen zeigen, Sie sollen vor allem die schönen Seiten von Afionas sehen.“
„Fahren wir jetzt zu Roberto?“
„Nein, wir fahren ins Three Brothers. Es ist Zeit für einen Heleniko.“
Die Beiden betraten die Stammkneipe von Manousos, doch bis auf Kostas, den Wirt, und die beiden Töchter Georgia und Urania war die Taverne um diese frühe Stunde leer.

„Gia sas,“ sagte Georgos zur Begrüßung und bestellte zwei Heleniko, dann ging er mit Katharina auf die Terrasse. Katharina war sprachlos.
„Ein schöner Ausblick,“ stellte Georgos amüsiert fest. Vor ihnen lag das weite, offene Meer, im leichten Dunst erhoben sich die vorgelagerten Inseln wie Saurier aus dem Wasser.
„Sicher der schönste Ausblick von Afionas.“
„Einer der schönsten. Eigentlich hat hier jeder die beste Aussicht, doch jede ist anders. Die Felsen, die Olivenwälder (für bestes Oliven Öl), die vielen Buchten – Afionas ist keine Perle, sondern ein Diamant mit vielen Facetten.“
Katharina konnte gar nicht genug Bilder machen: Der Blick über das Meer, die Inseln Othoni und Mathraki; ein Gefühl von Weite und Unendlichkeit überkam sie und sie versuchte, dieses Gefühl in ihren Bildern festzuhalten.

„Sie sollten abends herkommen,“ sagte Georgia, die den Kaffee brachte, „der Sonnenuntergang ist wunderschön. Und jeden Abend anders.“ Sie zeigte auf ein Bild an der Wand, das einen besonders dramatischen Sonnenuntergang zeigte.

„Ist Roberto oft hier?“
Georgia warf den Kopf in den Nacken und schnalzte. „Der sitzt zuhause und schreibt. Doch im Sommer ist er jeden Freitag hier – High-Noon im Three Brothers nennt er das. Pünktlich um 12 Uhr erzählt er von den Krimis und versucht den Leuten beizubringen, wie man schreibt. Ist immer gut besucht.“
„Die Leute kommen, um von ihm das Schreiben zu lernen?“
Wieder schnalzte Georgia mit der Zunge und lachte dabei. „Roberto möchte das gerne glauben, aber ich denke, sie kommen eher wegen des Essens.“ Sie zwinkerte Katharina zu. „Wir bieten Freitags ein Krimi-Menü und das kommt bei den Gästen sehr gut an.“
„Weißt Du zufällig, wo Roberto im Moment steckt?“ fragte Georgos.
Georgia zuckte die Schultern. „Wenn er nicht zuhause ist, ist er wohl in der Stadt. Seit er Familie hat…“
„Roberto hat Familie?“ Katharina war überrascht und Georgia lachte. „Die Leser kennen ihn nur aus den Büchern, aber die sind natürlich nicht aktuell. Letzten Sommer hat er seine Daphni vor den Traualtar geführt.“ Sie schmunzelte. „Seitdem ist nicht mehr viel los mit dem argentinischen Gigolo, jetzt dreht sich alles um seine Tochter.“ Mit einem Ruck drehte sich Georgia um und ging zurück ins Haus.
„Hat sie selbst ein Auge auf Roberto geworfen?“ fragte Katharina amüsiert.

Georgos nippte an seinem Heleniko und strich sich dann über den Schnauzer. „Roberto tut zwar so, als würde er in den Büchern sein gesamtes Privatleben offenlegen, aber was er wirklich fühlt und denkt, behält er gern für sich.“ Er seufzte. „Es fällt keinem von uns leicht, zwischen den Krimis und der Realität zu unterscheiden. Seit immer mehr Besucher nach Afionas und Agios Georgios kommen, müssen alle mehr Fragen beantworten.“

„Auch über die neuen Bücher?“
Georgos nickte. „Auch darüber.“
„Darf ich dann auch…“
Diesmal schnalzte Georgos mit der Zunge. „Top-secret.“ Er setzte ein ernstes Gesicht auf. „Von mir erfahren Sie nicht, dass der vierte Band auf der Fähre nach Venedig spielt und es im fünften Band eine wilde Verfolgungsjagd über die Insel gibt, noch dazu an Ostern. Ich werde Ihnen das keinesfalls verraten.“
„Aha,“ sagte Katharina ebenfalls mit ernster Miene, „dann werde ich auch nicht danach fragen.“
Georgos nickte befriedigt. „Ganz richtig. Hat überhaupt keinen Zweck. Denn ich kann Schweigen wie ein Grab.“ Er zwinkerte. „Zumindest wie ein korfiotisches Grab.“

Nach dem Heleniko im Three Brothers zeigte Georgos Katharina noch das Dionysos, wo sich Rudi versteckt hatte, dann ging es weiter zum Xenichtis, auf das Katharina besonders erpicht war. Doch das Xenichtis, die Nacht-Eule, hatte geschlossen. Katharina war enttäuscht.

„Ich wollte sehen, ob ich als Frau willkommen bin,“ sagte sie zu Georgos. „Roberto schreibt, das sei ein reines Männerrefugium.“

„Ist es auch,“ bestätigte Georgos. „Zumindest im Winter. Und wenn die Frauen die Taverne nicht übernehmen. Die Frauenabende im Xenichtis sind berüchtigt, da ist kein Mann zugelassen. Beim letzten Mal haben sie die gesamten Alkoholvorräte vernichtet. Mehr verrate ich nicht.“

Nun endlich stand der Besuch bei Roberto an, doch der war nicht zuhause, Katharina konnte lediglich das Haus und die Aussicht von Robertos Terrasse fotografieren. Nur Kermit begrüßte sie mit lautstarkem Quaken und zeigte sich gnädig: Als Katharina mit ihrem Tele auf Froschjagd ging, präsentierte er sich von seiner grünsten Seite. 

„So eilig, wie es Harko vorhin hatte, trifft er sich bestimmt mit Roberto in der Stadt,“ meinte Georgos. „Ich gehe jede Wette ein, dass die Beiden nächste Woche bei mir auf dem Revier erscheinen und mir wieder eine haarsträubende Geschichte auftischen.“ Seinem Gesichtsausdruck nach schien er sich darauf zu freuen.

Die Fahrt führte weiter, nach Arillas, nach Agios Stefanos, nach Avliotis. Dort hielt Georgos an und lud Katharina auf einen kleinen Imbiss ein.

„Warum hier oben in einem Bergdorf, und nicht in einer Taverne am Strand? Am Meer ist es doch viel schöner.“„Möchten Sie die Aussicht oder das Essen genießen?“

„In Korfu-Stadt kann ich beides.“
„Hier auf dem Land müssen Sie sich gelegentlich entscheiden.“
Georgos betrat, von Katharina gefolgt, die Taverne, die sich hoch über dem Dorfplatz erhob.

„Verraten Sie es nicht,“ bat er, nachdem sie Platz genommen hatten, „aber ich bin genau wie Roberto bekennender Gourmand.“
Katharina, die gerade die Speicherkarte ihrer Kamera wechselte, sah überrascht auf. „Sie meinen, Sie sind Gourmets?“
„Nein, wir sind Gourmands.“
Die gertenschlanke Fotografin kniff die Augen zusammen und musterte mit kritischem Blick das stolze Bäuchlein von Georgos. „Sie wissen schon, was Gourmand bedeutet? Es ist das französische Wort für einen Vielfraß.“ Georgos schien nicht beleidigt, im Gegenteil, er lachte sogar. „Das dachte ich auch, bevor mich Roberto aufklärte. Ein Gourmand ist ein Mensch, der das Essen liebt, das stimmt, aber er ist kein Vielfraß: Ein Gourmand ist ein Feinschmecker, der beim Essen auch satt werden möchte. Ein Gourmet dagegen ist ein Weinkenner, oder ganz allgemein ein Mensch, der gern und oft zu tief ins Glas schaut. So gesehen sind Roberto und ich ganz bestimmt keine Gourmets, wir wissen eher eine gute Tasse Kaffee zu schätzen.“ Zum Beweis bestellte sich Georgos eine Tasse Heleniko, noch bevor er einen Blick in die Speisekarte warf.
Das Essen, das er schließlich für Katharina und sich selbst bestellte, entsprach bester korfiotischer Tradition: Mehrere Vorspeisen, dazu frisches Brot und ein halber Liter Hauswein, den Roten. Katharina musste schließlich zugeben, dass ihr die Speisen hervorragend mundeten. Dies hier war keine Touristen-Taverne, hierher kamen Griechen, die die echte korfiotische Küche liebten.

„Ich weiß,“ sagte sie zwischen Tsatsiki und Taramosalata, „Sie schweigen wie ein Grab. Wie ein korfiotisches Grab. Doch Sie scheinen viel über die nächsten Krimis zu wissen.“Georgos nickte bedächtig. „Beides stimmt.“„Wie kommt das?“
„Dass ich schweige wie ein Grab?“
„Nein – dass Sie soviel wissen.“
Der Reviervorsteher von Karousades lehnte sich genüsslich zurück. „Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Weil Roberto sehr viel Wert auf Details legt. Jeder Krimi in sich ist abgeschlossen, doch die ganze Serie soll zeigen, wie sich die Figuren weiterentwickeln.“ Georgos lachte. „Im richtigen Leben hat Roberto seinen Gang zum Traualtar bereits hinter sich, da ist er sogar schon stolzer Vater. Ich selbst bin übrigens Taufpate der kleinen Chrisa. Doch in den Krimis hat er noch nicht einmal um Daphnis Hand angehalten.“ Er schmunzelte. „Wenn ich daran denke, wie er nun jede Nacht aufstehen muss, um seine Tochter auf dem Arm zu tragen – ich bin wirklich gespannt, wie er es da schaffen will, mit den Krimis den Anschluss an die Gegenwart zu finden. Zumal er…“
Katharina wartete gespannt, doch Georgos sagte nichts, er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schloss die Augen.
„Zumal er…“ Katharina wiederholte Georgos letzte Worte, wollte ihn aufmuntern, mehr zu sagen.
Statt auf ihre Aufforderung zu reagieren, stand Georgos auf, trat ans Geländer und sah hinab auf den Dorfplatz von Avliotis. Katharina zögerte, unsicher, ob sie ihm nachgehen oder ihn mit seinen eigenen Gedanken allein lassen sollte.
Georgos nahm ihr die Entscheidung ab, er drehte sich um und fragte sie direkt: „Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?“
Katharina antwortete: „Ich bin Frau und Journalistin – auch ich kann schweigen wie ein korfiotisches Grab.“
Georgos versuchte, gleichzeitig zu seufzen und zu lachen, verschluckte sich dabei, setzte sich hustend an den Tisch und fand sein Gleichgewicht erst wieder, nachdem ihm der Wirt einen eilends gebrauten Heleniko vorsetzte. Der erste Schluck löste den Hustenreiz, der zweite die Zunge und Georgos fing an, einige bis dato wohlgehütete Geheimnisse auszuplaudern.
„Sehen Sie,“ fing er seine Ausführungen an, „das letzte Jahr war sehr turbulent. Nicht nur für Roberto, auch für Harko und mich. Wir haben viel erlebt, Roberto hat viel Material, das er aufarbeiten muss.“
„Und was bedeutet das ›zumal er‹ dabei? Hat ein Schriftsteller nicht immer viel zu tun?“
Georgos trank den Rest seines Heleniko, legte einige Münzen auf den Tisch und stand auf. „In den ersten Krimis hat Roberto Fälle beschrieben, zu deren Aufklärung Harko…“ Georgos hüstelte. „… und ich viel Zeit benötigten. Im letzten Jahr aber haben sich einige Dinge in sehr kurzer Zeit ereignet. Die Sache an Silvester beispielsweise, bei der… Jedenfalls hat der ganze Fall nur 24 Stunden gedauert. An Ostern war es ähnlich: Drei Tage vor Ostern fing die ganze Schei… fing der ganze Schlamassel an, einen Tag danach… Roberto schreibt zwar schnell, aber so schnell dann doch wieder nicht.“
Er ging zurück zum Wagen, Katharina folgte ihm. „Können Sie mir nicht mehr über die nächsten Fälle verraten?“
Georgos schnalzte mit der Zunge. Doch als er am Polizei-Jeep anlangte, tätschelte er zärtlich die Motorhaube. „Wir beide, mein Jeep und ich, haben letzten Sommer in Stuttgart ordentlich aufgeräumt.“
„Sie?!? In einem griechischen Polizeiauto? In Deutschland?“
Georgos sagte kein Wort, stieg ein, öffnete das Handschuhfach und holte eine Schatulle heraus: Ein silberner Orden an einem roten Band.
„Der ist mir letzten Sommer in Stuttgart verliehen worden, von Sozialminister Andreas Renner persönlich.“
Katharina war beeindruckt. „Und darüber schreibt Roberto jetzt?“
„Darüber schreibt er jetzt. Und ich fürchte, viel mehr kann ich Ihnen auch nicht verraten. Aber wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen einige der Schauplätze der nächsten Krimis.“
Natürlich wollte Katharina. In den nächsten Stunden lernte sie den Norden Korfus mit den Augen von Georgos Katsatopoulos zu sehen:

Sidari, das mit seinen Bars und Tavernen vor Leben nur so sprudelte, Roda mit seiner um die Mittagszeit ruhigen Strandpromenade. Acharavi, wo Georgos besonders die kulinarischen Vorzüge des Pump-House hervorhob,  Kassiopi, den malerischen Hafen an der Nordost-Ecke, wo er vor einem Jahr mit den Kollegen aus Deutschland so gemütlich beisammen gesessen war, nicht ahnend, welch schrecklichen Dinge das Osterfest für sie alle bereithalten würde.

Die Fahrt führte an Dassia vorbei, wo Roberto im Sommer im Daphnila Bay (ein wunderschönes Korfu Hotel) Lesungen gab, nach Gouvia, dem Yachthafen, wo, so Georgos, bislang noch nichts geschehen sei, aber da sich dort neben allerlei Prominenz auch so manche zwielichtige Gestalt herumtreiben würde, sei es nur eine Frage der Zeit, bis er mit Harko auch hier ermitteln würde.

Es war später Nachmittag, als Georgos und Katharina die Rückfahrt antraten: Die Straße entlang, an der Manousos – natürlich vollkommen polizeiwidrig – mit seinem Bruder Angelos und Bulldozer-Nick die Straßensperre errichtet hatte, den Pass hoch, den Manousos in seinem Toyota mit 160 hinuntergerast war, eine Fahrt, an die sein Schutzengel sicher heute noch mit Grausen zurückdenke.

Am Troumpeta-Pass war die nächste Stärkung fällig – schlechte Lage, aber hervorragende Küche, kommentierte Georgos. Katharina pflichtete Georgos bei, was das Essen anbelangte:So gut habe sie schon lange nicht mehr gegessen.

Doch was die Lage anbelangte, widersprach sie ihm: Ihr gelangen einige wunderschöne Nachtaufnahmen. Georgos wollte danach zurück nach Karousades, Helena erwarte ihn, doch als Katharina darauf drängte, noch einmal zu versuchen, Harko und Roberto zu sehen, schlug Georgos zum zweiten Mal an diesem Tag die Straße nach Afionas ein. 

Wie sehr sich das Leben auf Korfu von dem Leben in einer Stadt unterschied, erfuhr Katharina schon nach wenigen Minuten: Entsetzt stellte sie fest, dass sie ihr Handy in der Taverne vergessen hatte. Nun fürchtete sie, das habe inzwischen einen anderen Besitzer gefunden. Georgos wendete, musste aber nicht weit zurückfahren: Ein Moped kam, scheinbar in Schlangenlinien fahrend, auf sie zu, darauf saß der Ober aus der Taverne und schwenkte im Licht von Georgos Scheinwerfern aufgeregt Katharinas Mobiltelefon.

Katharinas Hochstimmung hielt bis Afionas, dann wirkte sie wieder enttäuscht: Weder Harko noch Roberto waren zuhause. Da Georgos inzwischen die lokalen Gepflogenheiten in Afionas kannte, ließ er sich davon nicht entmutigen und fuhr weiter zum Xenichtis.
Hier traf Katharina die halbe „Crew“ der Korfu-Krimis: Harko, Roberto, Manousos, Angelos, Bulldozer-Nick – und wie so oft in lauen Sommernächten auch einige Leser der Korfu-Krimis, die die Gelegenheit nutzten, mit ihren „Helden“ Krimi-Atmosphäre live zu erleben.