Leseprobe Teil 1 von 2: „Harko und das tote Mädchen am Strand“

„Du kennst Jannis gut: Traust Du ihm einen Mord zu?“
Manousos lachte und sagte: „Zeig mir einen Mann in diesem Raum, dem ich keinen Mord zutraue.“
„Dich und mich eingeschlossen?“ fragte ich. Es war als Scherz gemeint.
„Uns beide eingeschlossen,“ sagte Manousos und es klang überhaupt nicht wie ein Scherz.
Jetzt war es Zeit, dies für Harko zu übersetzen. Bald führten wir unsere eigene Diskussion.
„Glaubst Du,“ fragte ich, „irgend jemand hier könnte einen Mord begehen?“

Ich hatte die Griechen, die Korfioten und vor allem die Afioniten bislang nur als offene und hilfsbereite Menschen kennengelernt und traute keinem von ihnen etwas Böses zu. Sie waren keine Engel, es gab kleine, dunkle Geheimnisse – wie überall auf der Welt. So war es beispielsweise vollkommen in Ordnung, einen anderen zu übervorteilen: Wer sich bei einem Geschäft als der Gewieftere erwies, hatte seine Bewunderer, wer Federn ließ, erntete zum Schaden noch den Spott. Doch ich hatte noch nie jemanden gewalttätig werden sehen. Es gab hier keine Männer, die ihre Frauen verprügelten, allenfalls einige Frauen, die ihren Männern gelegentlich die Hölle heiß machten. Es kam auch nicht vor, dass Kinder von ihren Eltern geschlagen wurden. Wurde ein Kind mit einer Verletzung ins Krankenhaus eingeliefert, die nicht eindeutig von einem Unfall herrührte, leitete die Polizei noch am gleichen Tag eine Untersuchung ein. Vor einem Jahr war dies in Athen passiert: Vater und Mutter stritten sich, das Kind bekam Schläge und musste ins Krankenhaus. Das Fernsehen berichtete tagelang über den Fall. Als ich Manousos fragte, weshalb soviel Wirbel um die Prügel gemacht wurde, sah er mich nur ungläubig an und sagte: „Man schlägt doch keine Kinder!“ Und diese Menschen sollten nun in Manousos Augen alle potentielle Mörder sein?

Darüber musste ich mit ihm reden. Ich schaffte es, seine Aufmerksamkeit in einer Atempause noch einmal zu erringen. „Hör mal,“ sagte ich, „ich halte weder Jannis noch sonst jemanden hier für einen potentiellen Killer. Dazu sind alle viel zu nett.“

 

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