Leseprobe – Szene im Ilios aus Band 3, Harko und der Kunstprofessor

Szenenhintergrund:
  Professor Xaver Hintermooser, engagierter, aber bislang beständig missverstandener Künstler, wurde von seiner Kunst buchstäblich erschlagen: Die kalte Sophie, eine 3m große Stahl-Plastik, hat ihn unter ihren mächtigen Brüsten begraben. Die Ermittlungen führen Harko, den Bullen von Korfu, und Roberto Bardéz auch ins Ilios, wo sie von Alex, dem Goldschmied, mehr über das Selbstverständnis von Künstlern wissen wollen. 

Szene im Ilios:
  Alexandros oder Alex, wie ihn seine Freunde und Bekannten nennen, arbeitete in seiner Werkstatt, einem großen Raum, der gleichzeitig Arbeitsplatz, Ausstellungssaal, Verkaufsraum und im Sommer kommunikatives Zentrum war – viele Künstler und Kunstbegeisterte aus dem Norden Korfus trafen sich hier zu einem Schwatz.

  Als erstes bestellte Alex in einer nahegelegenen Taverne eine Flasche Ouzo und eine Platte Mese für uns, dann setzten wir uns an einen alten wackeligen Tisch. „Der sieht zwar heruntergekommen aus,“ sagte Alex stolz, „ist aber der letzte echte korfiotische Tisch hier in der Bucht, nicht so ein billiges Ding aus Plastik. Und er ist alt, sehr alt.“

  Ich sah mich genauer in seiner Werkstatt um. Der Arbeitstisch – weder alt noch wackelig – war für acht Leute gemacht: Ein ovaler, großer Tisch, mit acht Einbuchtungen versehen, an denen seine Seminarteilnehmer arbeiten konnten.

  „Hier,“ sagte Alex und zeigte uns seine neueste Kreation. „Ein Olivenkern in Silber. Jeder Teilnehmer erstellt sich seine eigene Gussform, gießt sich ein einmaliges Schmuckstück und nimmt dann den Kern und den Anhänger aus Silber mit.“ Für wenig Geld konnte sich jeder Besucher in kurzer Zeit ein eigenes Unikat erstellen.

  Der Wirt brachte uns den Ouzo und die Platte mit Wurst, Käse, Oliven und Brot, wir stellten sie auf den Tisch. Alex schenkte die glasklare Flüssigkeit ein, goss Wasser darauf, was dem Ouzo sofort eine milchigweiße Farbe verlieh.

  Ich wollte mich über den Professor und seine Bestattung unterhalten, brannte darauf, die Meinung von Alex zu hören, doch er und Harko diskutierten erst über die Olivenbäume Korfus. Harko beharrte darauf, die Korfioten müssten endlich lernen, die Bäume richtig zu beschneiden, um wirklich gutes Öl zu produzieren, er sagte, auf den anderen Inseln seien die Bauern viel weiter, auf seinen letzten Reisen habe er viele gutgepflegte Plantagen gesehen. Alex stimmte ihm zwar im Prinzip zu, wandte aber ein, Korfu habe vielleicht nicht das beste Öl, dafür aber die schönsten Olivenwälder Griechenlands. „Wo sonst,“ fragte er, „gibt es diese jahrhundertealten, herrlich verwachsenen Olivenbäume?“

  Nach der ersten Flasche Ouzo – Alex bestellte gleich die nächste, samt einer weiteren Platte Mese – kamen wir endlich auf den Professor zu sprechen.

  „Provokant bis zum Schluss,“ sagte Alex mit einem listigen Lächeln. „Die Sache mit dem Sarg ist ein Meisterstück. Darüber wird man noch in hundert Jahren sprechen.“

  „Ist der Sarg künstlerisch etwas derart Besonderes?“ fragte ich ungläubig.

  Alex griff sich eine Olive von der zweiten Mese-Platte, schob sie in den Mund und spülte mit einem Schluck Ouzo nach. „Vom künstlerischen Standpunkt,“ sagte er, „ist es ein witziger Einfall, keine Frage. Doch wenn ihr mich fragt, wollte er damit keineswegs die Kunstwelt schockieren: Diese Aktion ist gegen die Korfioten gerichtet.“

  „Wie das?“ fragte Harko überrascht.

  Alex drehte sein Glas in der Hand. „Ihr wisst sicher, dass Georgos und Alexandros in Griechenland die häufigsten Vornamen sind. Auf Korfu aber ist Spiros der absolute Favorit.“

  Das stimmt: Allein in Afionas gibt es rund 15 Spiros Bardis, die nur deshalb voneinander zu unterscheiden sind, weil man sie im Alltag mit ihren Spitznamen bezeichnet.

  „Wisst Ihr auch, warum das so ist?“

  Weder Harko noch ich kannten den Grund dafür.

  „Weil der heilige Spiridon der Schutzheilige der Insel ist. Spiros ist von Spiridon abgeleitet.“

  „Was hat das mit dem Professor zu tun?“ fragte ich.

  Alex schmunzelte. „Agios Spiridon, der heilige Spiros, ist in der Stadt in der Spiridon-Kirche aufgebahrt. Jetzt ratet mal, worin er liegt.“

  „In einem Sarg aus Edelstahl!“

  „Nein, das nicht. Er ruht in einem Sarg aus Silber. Optisch besteht jedoch zwischen Silber und poliertem Edelstahl kein großer Unterschied.“

  Harko lachte schallend. „Der heilige Xaver! Der alte Halunke war noch viel durchtriebener als ich dachte.“

  „Früher wurde Agios Spiridon offen in seinem Sarg durch die Stadt getragen. Bis ein Witzbold einen Finger klaute. Seitdem bleibt der Sarg bei Prozessionen geschlossen.“

  „Dem hat der Professor vorgebeugt,“ sagte ich. „Sein Sarg ist zugeschweißt.“

  „Wenn ihr einen Korfioten tödlich beleidigen wollt,“ fuhr Alex fort, „müsst ihr ihn nicht mit Malakas1 titulieren. Werft ihm einfach vor, er habe den Finger von Agios Spiridon geklaut – dann seht ihr ihn in diesem Leben nicht mehr wieder.“

  „Was mich noch interessieren würde,“ sagte ich zu Alex, „wie siehst Du den Professor als Künstler? Ich meine: Sind seine Werke gut?“

  Kunst und Literatur mochten gewisse Berührungspunkte haben, doch als Goldschmied hatte Alex mehr Kunstverständnis als ich.

  Statt auf meine Frage zu antworten, stand Alex auf, ging zu einer Vitrine und holte mehrere seiner Werke heraus. Dann ging er zu seinem Schreibtisch, öffnete eine Schublade, entnahm auch dieser einige Gegenstände und legte schließlich alles zusammen auf den Tisch. Es waren Ringe und Broschen.

  Alex deutete auf eine der Broschen. „Die habe ich vor zwei Jahren angefertigt. Gefällt sie Dir?“

  „Sehr schön,“ sagte ich. Es war kein höfliches Kompliment, ich fand das Schmuckstück wirklich gut.

  Alex lachte. „Meinen Kunden hat sie auch gefallen, ich habe viele davon verkauft.“

  „So wie Du das sagst,“ meinte Harko, „gefällt sie Dir selbst nicht.“

  Alex nahm die Brosche in die Hand, hielt sie hoch und sah zu, wie sich das Licht in dem eingearbeiteten Edelstein brach.

  „Sie ist perfekt gearbeitet,“ sagte er, was stolz, aber nicht überheblich klang. „Trotzdem ist sie schlecht.“

  Ich wollte widersprechen, doch Alex hob seine freie Hand und bedeutete mir, zu schweigen.

  „Sie ist schlecht, weil sie nichts Besonderes ist. Solide Goldschmiedearbeit, wie sie den Leuten gefällt, wie sie sich gut verkaufen lässt und wie sie in Geschäften auf der ganzen Welt in dieser oder einer anderen Form angeboten wird. Vor zwei Jahren war ich noch stolz darauf, sie so gut anfertigen zu können. Erst als ich sah, wieviele andere Goldschmiede auf Messen vergleichbares anboten, erkannte ich, wie gewöhnlich sie ist.“

  Alex legte die Brosche zur Seite und hob einen Ring in die Höhe. Er betrachtete ihn wie ein Vater sein Kind, liebevoll, stolz und zärtlich, dann gab er ihn mir. „Wie gefällt Dir dieser Ring?“

  Das gut lag mir bereits auf der Zunge, doch das war es nicht, was Alex von mir hören wollte. Ich sah mir den Ring genauer an. Er war aus Silber gefertigt, ungewöhnlich breit und dennoch überraschend leicht. Oben war ein blutroter Granat eingesetzt; das Licht der Kerzen, die Alex auf dem Tisch angezündet hatte, erzeugte in ihm ein wildes Feuer. Eine gute Arbeit, dachte ich, aber auch nicht einmalig. Bis ich den Ring in meiner Hand drehte und mir die Innenseite auffiel. Erstaunt sah ich, dass sie nicht kreisförmig, sondern sechseckig war. Und nicht nur das: Jede der sechs Innenflächen war mit Steinen besetzt, die in das Silber eingelassen waren. Die oberste Fläche enthielt nur einen Stein, genau unterhalb des Granats, und als ich mir den Ring noch einmal von oben ansah, konnte ich den kleinen Stein, der ebenfalls rot, aber wesentlich dunkler war, durch den Granat schimmern sehen: Seine Kontur vermischte sich mit dem Farbspiel des Granats, sorgte für eine Tiefe, die ich noch in keinem anderen Ring gesehen hatte. In die anderen Flächen waren kleine, ovale Steine eingelegt, alle zu filigranen Blütenblättern zusammengesetzt.

  „Einen solchen Ring habe ich noch nie gesehen,“ sagte ich erstaunt.

  „Gefällt er Dir?“

  „Sehr sogar,“ sagte ich ehrlich.

  Auch Harko wollte ihn sich ansehen. Ich gab ihm das Schmuckstück, er drehte es aufmerksam hin und her.

  „Wie machst Du das?“ fragte er. „Ich meine: Wie bekommst Du die Steine innen in den Ring hinein?“ Alle Steine waren perfekt eingepasst.

  „Das,“ sagte Alex, „ist mein Geheimnis.“

  „Es sind zwei Ringe,“ sagte ich laut überlegend, „die getrennt gefertigt und dann zu einem zusammengesetzt werden. Stimmt´s?“

  Ich fürchtete schon, Alex wäre beleidigt, weil ich hinter seinen Trick gekommen war, doch er lachte nur. „Nun ist das Geheimnis kein Geheimnis mehr. Aber darauf kommt es nicht an. Wichtig ist: Die Ringe gefallen mir und meinen Kunden, sie tragen meine Handschrift und sie sind etwas Besonderes. Kein anderer Goldschmied fertigt bislang eine ähnliche Arbeit.“

  Er griff nach seinem Glas und trank einen Schluck Ouzo. „Der Unterschied zwischen der Brosche und dem Ring ist einer der Unterschiede zwischen einem Handwerker und einem Künstler. Der Handwerker produziert Waren, die seinen Kunden gefallen und die sich gut verkaufen lassen. Auch der angehende Künstler produziert Werke, die gefallen, aber in erster Linie geben sie den Geschmack des Künstlers, nicht den des Publikums wieder. Vor zwei Jahren hätte ich solche Ringe zwar herstellen, aber nicht verkaufen können.“

  „Warum nicht?“ fragte ich neugierig. Denn für einen solchen Ring müssten sich viele Kunden interessieren.

  „Vor zwei Jahren kamen die Kunden zu mir, weil sie etwas Nettes suchten.“ Das nett klang abfällig. „Sie wollten eine Erinnerung an den Urlaub, gelegentlich etwas Extravagantes, aber nichts so Spezielles wie diesen Ring. Er wäre wie ein Schaustück in der Ausstellung gelegen, ein Exot, dem man zwar das handwerkliche Können angesehen, dieses aber nicht mit mir in Verbindung gebracht hätte. Erst seit die Kunden wissen, dass ich nicht nur den Schmuck mache, den auch alle anderen produzieren, erwarten sie von mir wirklich das Besondere. Dieser Ring ist nicht für die Massenproduktion gemacht, er trägt meine Handschrift und symbolisiert das, was ich denke. Man sieht ihm an, dass ich neue Wege gehen will, dass ich mich in neue Bereiche vortaste.“

  Alex nahm den Ring, trug ihn zurück zur Vitrine, und brachte einige höchst eigenwillige Kreationen: Ringe mit aufgesetzten Hörnern, mit eingearbeiteten Tierköpfen, mit farbigen Bändern unter einer durchsichtigen, wie Glas glänzenden und im Kerzenlicht schimmernden Oberfläche. „Der zweite Unterschied ist noch viel wichtiger. Der Handwerker produziert, um zu leben, der Künstler schafft, weil er etwas ausdrücken will, ja sogar muss – das ist wie ein innerer Zwang. Je bekannter ich als Goldschmied werde, desto mehr kann ich, muss ich sogar meinen eigenen Stil weiterentwickeln. Die Leute erwarten von mir Werke, die sich von allen anderen unterscheiden. Wenn ich als Goldschmied einen Namen habe, kann ich irgendwann sogar völlig verrückte Dinge machen – die werden dann nicht mehr gekauft, nur weil sie gefallen, sondern vor allem, weil sie von mir stammen. Werde ich nicht so berühmt, verfehle ich irgendwann den Geschmack meiner Kunden. Aber bis dahin kann ich meinen eigenen Stil vervollkommnen.“

  „Was hat das mit dem Professor zu tun?“ fragte Harko.

  Harko war kein Künstler, nicht einmal Handwerker, er setzte um, was er in der Ausbildung gelernt hatte, folgte bei seinen Ermittlungen bewährten Richtlinien. Ich sah mich als Handwerker und erkannte nun mit erschreckender Deutlichkeit, wie falsch dieser Weg war. Wenn es mir nicht gelang, in meinen Büchern einen eigenen, unverwechselbaren Stil zu entwickeln, würde ich niemals etwas anderes produzieren als Massenware, wie sie auch von hunderten, ach was, von tausenden anderer Autoren geschrieben wurde. Und der Professor?

  „Der Professor,“ versuchte ich Harkos Frage zu beantworten, „ist ganz oben eingestiegen. Er hat den Schritt als Handwerker ausgelassen, hat nie den Kontakt zu seinen Kunden gesucht. Er hat sich von Anfang an selbst verwirklicht, ohne sich zuvor eine Fangemeinde aufzubauen, die seinen Weg verfolgt, er hat sich sofort auf seine Botschaft konzentriert, auch wenn ihn niemand verstanden hat. Deshalb gab es für ihn nur zwei Alternativen: Den absoluten Erfolg oder die totale Ablehnung seiner Werke.“

  Alex griff einen Ring mit Widderkopf und drehte ihn nachdenklich zwischen den Fingern. „Wisst Ihr, dass ich mir nicht einmal sicher bin, ob das Kunst ist? Ob ich überhaupt Kunst mache?“

  „Der Ring ist ein Kunstwerk,“ sagte ich. „Das sehe sogar ich als Laie.“

  Alex lächelte. „Er ist gut gemacht, aus der Sicht des Goldschmieds ist es eine sehr gute Goldschmiedearbeit. Aber Goldschmiedekunst? Künstler wird man nicht, weil man sich das vornimmt, zum Künstler wird man, weil die Leute das so sehen.“

Er legte den Ring wieder auf den Tisch, griff stattdessen zu seinem Glas Ouzo, trank aber nicht. „Kunst ist keine Wissenschaft, es gibt nicht einmal eine Definition dafür, was Kunst ist. Ich persönlich glaube, Kunst ist etwas Gelebtes, ein Bewusstsein, das vor allem die innere Entwicklung des Künstlers zeigt und das sich in seinen Werken widerspiegelt. Für mich gehört dazu, dass meine Werke perfekt sind – ich will auch als Goldschmied stolz auf das sein, was ich schaffe. Vielleicht werde ich eines Tages Künstler sein, aber nicht, weil ich das so will, sondern weil mich die Menschen so sehen. Doch ich bin jetzt 33 und kann abwarten, in welche Richtung sich meine Arbeiten entwickeln, welchen Weg ich persönlich gehe. Der Professor war 70 und ganz versessen darauf, als Künstler angesehen zu werden. Ob seine Werke gut sind oder nicht, ob sie gefallen oder nicht – das spielt dabei keine Rolle. Sie müssen einmalig sein. Und das sind sie. Doch ich bezweifle, ob es ihm zu Lebzeiten gelungen wäre, die notwendige Bekanntheit zu erlangen. Jetzt, nach seinem Tod, sieht die Sache anders aus: Jetzt kann sein Kollege die Vermarktung übernehmen. Wenn ihr mich fragt, wird der Verkauf in den nächsten Wochen sehr erfolgreich sein.“